Kritisches Hinterfragen – gerade auch im virtuellen Semester

Egal ob in Offline- oder Online-Lehrveranstaltungen, sei es im Webinar oder im StudOn-Kurs: Irgendwann erwischt es jeden Studierenden und jede Studierende der Wirtschaftswissenschaften. Das grundlegende Lehrbuchwissen fegt über sie hinweg. Es kommt daher in monströsen Foliensammlungen, monumentalen Readern und gefühlt endlosen Monologen. Theorie x, Theorie y, Hauptsätze 1 bis 3 der Wohlfahrtsökonomik, Systematik Z, Tabelle Q, Prozessdiagramm F, Matrix M. Spätestens bei Unterpunkt 77 von 218 wird einem ganz schwindelig.

Dennoch können diese großen Wissensbestände sehr wichtig dabei sein, um einen Überblick über sein Fach, sein Feld, seine Disziplin zu erhalten. Mit einem reichen Wissensschatz lassen sich Antworten auf fachliche Fragen viel differenzierter und fundierter ausfindig machen und begründen. Nicht immer aber wird das vermittelte Wissen von den Lehrenden auch kritisch eingeordnet oder hinterfragt, etwa, weil einfach die Zeit fehlt, sich der oder die Kollegin auf andere verlässt oder davon ausgeht, dies sei Aufgabe der Studierenden selbst. Nicht immer werden auch alle relevanten Perspektiven und theoretischen Annäherungen an einen Sachverhalt gebührend dargestellt und durchdrungen. Manchmal werden sie auch gänzlich missachtet.

Zu meiner Zeit im Studium der Wirtschaftswissenschaften vor 15 Jahren haben beispielsweise marxistische, gemeinwohlökonomieorientierte, ethische oder ökologische Sichtweisen auf wirtschaftliches Handeln keine große Rolle gespielt. Auch Annahmen zu den vermittelten Standardtheorien wurden nicht immer hinterfragt. Der eine oder andere Kursleiter hat sogar die vertretenen Theorien vor Kritik immunisiert: Wenn beispielsweise eine Personen einen prall mit Scheinen gefüllten Geldbeutel auf einer Wiese unbeobachtet beim Spazieren findet und diesen ohne Finderlohn „uneigennützig“ wieder abgibt, so tut er oder sie das nur, weil der moralische Eigennutzen, den die Person aus dieser Tat zieht, höher ist als der monetäre Nutzen, der sich durch das Verbraten des Geldes ergeben würde, erklärte mir mal ein Tutor ganz im Einklang mit seiner Theorie der Nutzenmaximierung.

Trotz der enormen Wissensbestände, die es zu lernen gilt, droht also die Gefahr, einen einseitigen oder unkritischen fachlichen Blick zu entwickeln, wenn man sich ganz auf die Lehrenden alleine verlässt und nicht selbst seinen eigenen Kopf einschaltet. Ich selbst wäre z. B. beinahe dem Determinismus anheimgefallen und glaubte im vorgeschrittenen VWL-Semester, man könne menschliches Handeln und Wirtschaftsgeschehen exakt berechnen und vorhersagen, wenn man nur die relevanten Parameter und Rechenmodelle kennen und beherrschen würde. Das einzige was gegen solche Verkürzungen und alle weiteren “Ismen“ hilft, ist sich und anderen herausfordernde Fragen zu stellen. Gerade im virtuellen Studium wird das immer wichtiger, weil oftmals der kritische Diskurs mit anderen fehlt.

Wer? Wie? Was? – WiSo? Weshalb? Warum? – Wer nicht fragt bleibt dumm!

Stimmt das überhaupt so? Könnte es auch anders sein? Gibt es Gegenbeispiele, z. B. auch aus meinem Erfahrungsfeld? Welche weiteren Perspektiven und Begründungen sind möglich? Fragen,

  • die das Gegebene prüfen und infrage stellen, z. B. durch Gegenbeispiele;
  • die nach (weiteren) Belegen, Quellen und Begründungen verlangen;
  • die nach anderen Perspektiven Ausschau halten oder
  • Konsequenzen antizipieren.

Sie bringen das Denken und Wissen weiter. Wie kann es beispielsweise sein, dass das Gossensche Gesetz postuliert, dass der Grenznutzen abnehmend sei, wenn doch das Album von Pink Floyd aus Papas Plattenkiste bei jedem neuen Durchlauf an Finesse und Hörgenuss gewinnt? Warum lässt sich ein bestimmtes Marktgeschehen durch Neoklassizistische und Gemeinwohlökonomieorientierte Ansätze ganz unterschiedlich erklären und warum können Handlungsempfehlungen, die sich daraus ableiten, widersprüchlich ausfallen?

Durch das Stellen von kritischen Fragen wird die Welt eigenständig durchdrungen und Lebenswelten dabei konstruiert. Dadurch bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es einmal schien. Kritische Fragen sind das Sprungbett für den Wandel. Springen müssen Sie aber selbst. Vergessen Sie also bitte trotz der vielen Folien und Wissenshappen nicht, sich und anderen kritische Fragen zu stellen. Es lohnt sich und schützt vor “Betriebsblindheit“.

Weiterführende Impulse zum Thema kritische Fragen stellen finden Sie hier.

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Gastbeitrag von Dr. Dirk Jahn, Fortbildungszentrum Hochschullehre (FBZHL)